Heute jährt sich der Fall der Mauer zum dreißigsten Mal. Wir haben zwei Menschen bei DiB gebeten, ihre Erinnerungen an diesen Tag mit uns zu teilen.
So war mein 9.11.1989 – Siegfried, Thüringen
Ein Donnerstag, zunächst wie jeder andere „normale Donnerstag“ in der turbulenten Vorwendezeit. Es war für die Jahreszeit recht mild aber dennoch kühl mit Temperaturen knapp über null. Nach getaner Arbeit verbrachte ich den Abend in meiner behaglich warmen Wohnung auf der Couch vorm Fernseher und schaute im Wechsel die „Aktuelle Kamera“ und die „Tagesschau“. Eben ganz normal.
Da sprach Günter Schabowski den berühmten Satz: “… das gilt ab sofort, unverzüglich …“ und verkündete damit den Fall der Mauer. Dieser Satz schlug ein wie eine Bombe, deren Sprengkraft benommen machte. Gedankenblitze schossen durch meinen Kopf: Krass, habe ich verstanden, was ich gehört habe? Ist das wirklich wahr? Wie geht das denn, jetzt sofort, überall oder nur in Berlin? Was sollte ich jetzt tun? Usw…
Es blieb ruhig im Haus und auf den Straßen meiner Provinzstadt, die nur rund 15 km vor dem Grenzübergang Hirschberg nach Bayern liegt. Also sah ich wieder und wieder die Nachrichten, ging erst spät zu Bett und am nächsten Morgen wie üblich zur Arbeit.
Das beherrschende Thema waren die Nachrichten des Vorabends, die alle gesehen hatten und die ständig neuen Meldungen, die über den Tag aus dem Buschfunk dazukamen. Eine Kollegin schlug mir vor: Heute Abend nach der Arbeit fahren wir gemeinsam rüber in den Westen.
Es muss so gegen 18 Uhr gewesen sein, als wir uns in Bewegung setzten. In meinem Trabant fünf Personen: ein Kollege und zwei Kolleginnen, eine Tochter und ich. Doch kaum waren wir auf der Autobahn, standen wir im Stau.
Es ging kaum voran, aber die Stimmung war fröhlich. Die Leute leierten die Autoscheiben runter und unterhielten sich lautstark auf der Autobahn. Es war noch kälter als am Vortag, die Motoren liefen, um die Fahrzeuge zu heizen. Autoscheiben öffneten und schlossen sich wieder, aus den Auspuffen quoll dicker Nebel, aber alle grinsten irgendwie.
Die Stunden vergingen, immer mal wieder rollten wir ein paar hundert Meter weiter. Wir waren darauf nicht vorbereitet, hätten uns wärmer anziehen sollen und Proviant hatten wir auch keinen, außer Zigaretten. Gegen Mitternacht hatten wir die 15 km geschafft. Der Puls stieg, als wir uns den Grenzern näherten, die nur kurz unsere Ausweise kontrollierten, dann ein Wink des Postens, der uns signalisierte weiterzufahren. Wenige Minuten später am Brückenrasthaus Rudolphstein lenkte uns die West-Polizei auf den überfüllten Autobahnparkplatz. Wir waren im Westen und suchten Orientierung.
Zelte waren aufgebaut, darin gab’s heißen Tee und kleine Plastikbeutel mit einem Sortiment Wegzehrung, wie einer Orange und Süßigkeiten. Mir war es peinlich, da zuzugreifen, aber die Kälte war über die Stunden in unsere Knochen gekrochen und die fortgeschrittene Nacht verlangte nach neuer Energie und ehe ich mich versah, hatte mir jemand beides in die Hand gedrückt.
Um den Trabant stehend und rauchend überlegten wir, wohin es für uns weiter gehen könnte. Bayreuth oder Nürnberg waren zu dieser Uhrzeit kein Ziel mehr, aber zurück nach Hause, ohne auch nur irgendwas als diesen Parkplatz vom Westen gesehen zu haben, nein.
Das Schild an der nächsten Abfahrt wies nach Hof und schon bald erreichten wir die fast menschenleere Innenstadt. Wir schauten in die beleuchteten Schaufensterauslagen, der McDonalds schloss gerade, egal, wir hatten ja eh kein Westgeld dabei. Staunen kämpfte gegen Übermüdung und kalte Füße und als wir gerade wieder zu unserem Zweitakter wollten, um heimzufahren, damit wir nach ein wenig Stunden Restschlaf nicht zu spät zur Arbeit kommen würden, sprach uns ein alter Mann im Lodenmantel und Gamsbarthut an, der wohl ahnte, dass wir aus dem Osten waren. Er lud uns in eine Disco, im Obergeschoss eines nahen Kaufhauses ein.
Grelle bunte Lampen flackerten über der Tanzfläche mit erstaunlich wenig Gästen zu lauter Musik, die jede Unterhaltung nahezu unmöglich machte. Was sollten wir auch reden, waren wir doch voll damit beschäftigt die Eindrücke zu verarbeiten. Der alte Mann, dessen ausgeprägten Dialekt wir kaum verstanden, verschwand irgendwann. Wir hielten uns an unserem Gratisgetränk fest, das im Eintritt enthalten war, wohl wissend, dass wir für ein weiteres kein Geld dabei hatten.
Der Zeiger der Uhr marschierte auf die dritte Stunde nach Mitternacht. OK das war’s, der erste Abend unseres Lebens im Westen, fühlte sich fremd aber auch ein bisschen vertraut an, spannend aber unspektakulär. Wir hatten beschlossen zu gehen, als der DJ Nummern durchsagte. Erst beim zweiten oder dritten Aufruf begriffen wir, dass die Eintrittskarten auch Losnummern waren. Einer von uns hatte den Hauptgewinn in der Hand und bald darauf 100 DM in der Hosentasche. Lachend traten wir die Heimfahrt an.
Am nächsten Morgen ging ich müde an meinen Arbeitsplatz. Die Orange auf meinem Schreibtisch erinnerte mich daran, dass wir gestern im Westen waren.
Der Mauerfall aus Westperspektive – Tina, Rheinland-Pfalz
Für mich war der Mauerfall ein (freuden-)tränenreiches Ereignis, denn es bedeutete, dass ich meine Cousine in Magdeburg nicht länger nur ab und zu „illegal“, sondern fürderhin jederzeit problemlos würde besuchen dürfen. Es war außerdem u. a. ein Anlass zur Vorfreude auf stundenlange gemeinsame Bibliothekenbesuche mit meiner Cousine während ihrer Besuche bei uns, denn dass sie nicht alle Bücher und Zeitschriften bekommen konnte und lesen durfte, die sie sich wünschte, war für sie, neben den Reisebeschränkungen, mit der größte Verzicht, mit dem sie sich beim Leben in der DDR hatte abfinden müssen.
Doch nicht alle Tränen waren Freudentränen, wie schon in den Tagen vor dem Mauerfall. Tränen des vorauseilenden Mitleids flossen, vor dem Fernseher sitzend, bereits angesichts des Jubels der Menschen in den Autoschlangen, die die Botschaft in Prag hatten verlassen dürfen, wie dann auch derer, für die der Weg durch die Mauer unverhofft offen war.
So sehr ich mich mit ihnen über das Mehr an Freiheit freute, war mir doch klar, dass bei vielen von ihnen der Freude des Augenblicks sehr bittere Enttäuschungen folgen würden – z. B. bei denen, die aufgrund ihres Alters kaum noch Arbeit finden würden; bei Anderen, die den Westen vielleicht in einem allzu rosigen Licht gesehen hatten und bald feststellen würden, dass dort längst nicht alles Gold war, was aus der Ferne zu glänzen schien; und dass Einige grundsätzlich die Erfahrung machen würden, Nachteile hinter sich gelassen und neue dafür eingetauscht zu haben.
Dass auch mir eine Ernüchterung bevorstand, habe ich damals noch nicht geahnt. Hätte mir jemand prophezeit, dass eine Angleichung der unterschiedlichen Mentaliäten in den beiden Teilen Deutschlands (derer ich mir aufgrund meiner verwandtschaftlichen Beziehungen natürlich durchaus bewusst war) nicht nur Jahre, sondern Generationen dauern werde … ich hätte das mit Sicherheit als unzulässigen Pessimismus oder gar Fatalismus abgetan.
Ungeachtet des Bewusstseins der Mammutaufgabe, der sich die Politik, schon aufgrund der maroden Industrie und Infrastruktur in Ostdeutschland, nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern auch im Hinblick auf die Angleichung der Verwaltungsstrukturen zu stellen hatte, habe ich mir, ehrlich gesagt, keine Gedanken darüber gemacht, in welcher Form diese Aufgabe wohl am besten zu bewältigen sein würde.
Den tatsächlichen Ablauf zu verfolgen, konnte mich somit dann nur noch mit Zorn und Scham erfüllen. Und hat mir zwei unbeschreiblich arbeitsintensive und nervenaufreibende Jahre dadurch eingebracht, dass ich versucht habe, wenigstens in dem mir möglichen minimalen Umfang Gegenzeichen dafür zu setzen, dass nicht alle Westdeutschen egoistische Profitgeier sind.
Was ich mir heute am meisten wünsche, ist, dass endlich auch die letzten Mauern in den Köpfen auf beiden Seiten fallen.