Ein Gastbeitrag von Dan Thy
Nach den Ausschreitungen von Chemnitz reflektiert der Theaterregisseur Dan Thy Nguyen Erinnerungen über Flucht, Kindheit und unsere gesellschaftliche Situation. Dan Thy Nguyen entwickelt Arbeiten an renommierten Spielstätten, wie u.a. Kampnagel Hamburg und die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen. Mehr zu Dan Thy hier.
Ich bin ein paranoider Mensch. Das liegt vielleicht daran, dass ich in einer Familie aufgewachsen bin, die stark kriegs- und fluchttraumatisiert ist. Wir sind damals als Folge des Vietnamkrieges als Boat People aus Vietnam nach Deutschland gekommen. Und lange Zeit mussten sich meine Eltern und Großeltern daran gewöhnen, dass in Deutschland keine Bomben mehr abgeworfen werden oder Leichen auf den Straßen liegen. Aber bis heute höre ich die Stimme meiner Großmutter, wie sie nachts im Schlaf geschrien hat. Als Kind dachte ich immer, dass sie von einem bösen Geist besessen war und vielleicht war sie es auch irgendwie.
Vielleicht liegt meine Paranoia aber auch darin verwurzelt, dass ich in den Neunzigern aufgewachsen bin und unser Haus regelmäßig von Rechten angegriffen wurde. Bis heute erinnere ich mich an die Sprechchöre, die vor unserem Haus „Deutschland den Deutschen!“ riefen, oder „Ausländer raus!“.
Oder vielleicht liegt es auch an dem Geräusch von Steinen, die gegen unser Haus geworfen wurden und das anschließende Kichern und Wegrennen von jungen Menschen. Wer weiß? Wer kann das sagen?
Oder aber es liegt an dem Gestank von Hundeexkrementen oder Eiern, die nachts an unsere Außenhauswand geschmiert worden waren und die wir dann am nächsten Tag wegwischen mussten. An das Gesicht unserer Nachbar*innen und Mitbürger*innen, die jahrzehntelang meinten, dass sie nichts gesehen und gehört hatten und wir nicht übertreiben sollten. Rassismus gäbe es ja schließlich in Deutschland nicht mehr. Und wenn wir was anderes behaupten würden, dann hätten wir das Land noch nicht verstanden.
Vielleicht ist dies alles und noch viel mehr Teil meiner Paranoia. Mit absoluter Genauigkeit kann ich es nicht sagen. Aber diese Erfahrungen in Kindheit und Jugend machen es mir manchmal schwer mich anderen Menschen anzuvertrauen.
Böse Erinnerungen nach Bautzen, Tröglitz, Heidenau und Chemnitz
Ich bin jetzt Mitte dreißig, freier Theaterregisseur und Vater von zwei Kindern. Als nach dem Sommer der Migration 2015 die ersten Unterkünfte von Geflüchteten angegriffen wurden, gehörte ich zu den Menschen, die nicht überrascht waren. Die Ausschreitungen und Brandanschläge von unter anderem Tröglitz, Bautzen, Heidenau und Chemnitz weckten in mir nur böse Erinnerungen an eine Zeit, die ich längst vergessen wollte. Und letztendlich bin ich nur erschrocken darüber, dass ich nicht weiß, wie ich meinen Kindern erklären kann, dass sich meine Geschichte woanders auf ähnliche Art wiederholt.
Erstaunt war ich außerdem darüber, dass von Politiker*innen berichtet worden war, dass die Brandanschläge, Ausschreitungen und der Aufstieg der Rechten in Deutschland ein vollkommen neues Phänomen seien. So als hätten Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, Mölln, Solingen und der NSU nicht stattgefunden.
Hier habe ich verstanden, dass wir, die Opfer von rechter Gewalt waren, mindestens doppelt vergessen worden waren. Einmal während des Angriffs und dann noch einmal, als behauptet wurde, dass Rassismus und rechte Gewalt etwas nicht dagewesenes Neues seien. Hier zeigt sich, meiner Meinung nach, im Mindesten eine Konzeptlosigkeit und Geschichtsverleugnung von vielen Politiker*innen und großen Teilen der Bevölkerung.
Nun, was soll denn hier die Moral der Geschichte sein?
Was sollen wir denn hier als Gesellschaft lernen?
Vielleicht, so denke ich, dass wir bessere Demokrat*innen werden müssen. Mündige und empathische Menschen, die für eine bessere Gesellschaft kämpfen müssen. Menschen, die verstehen müssen, dass Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit mit jeder Generation neu erkämpft werden müssen. Menschen, welche die Geschichte nicht vergessen dürfen und gleichzeitig die Zukunft im Auge behalten müssen. Ich denke, dass wir lernen müssen freie, selbstbestimmende, politische und liebende Menschen zu werden. Als Individuum und als Gemeinschaft.
Und dass wir in einer Demokratie alle an der Zukunft der Gesellschaft beteiligt sind. Und das ohne Ausnahme.
Bild: Iraklis Panagiotopoulos