Das Sein bestimmt das Bewusstsein, hat schon der alte Marx gewusst. Weil das so ist, erkennen wir Menschen die wahre Dimension globaler Herausforderungen meistens erst dann, wenn es fast schon zu spät zum Reagieren ist: Wir schlittern fröhlich in die Krise hinein, weil sich das Leben halt gerade noch recht angenehm anfühlt – selbst wenn sich am Horizont bereits dunkle Wolken ballen.
Der dialektische Materialismus, mit dem Karl Marx das menschliche Sein, Streben und Scheitern erklärte, hat allerdings Schwächen. Die offensichtlichste liegt in der Lebenszeit. Wer länger auf dem Planeten wandelt, verhält sich anders als jemand, der erst kürzlich angekommen ist. Anders gesagt: Junge Menschen machen nicht nur andere Erfahrungen als alte. Sie denken und handeln auch aus einer ganz anderen Perspektive.
Beispiel gefällig?
Die Erderhitzung und ihre Folgen sind nach Meinung fast aller Wissenschaftler*innen die grösste Herausforderung, der die Menschheit je gegenüber stand. Jahrelanger Wassermangel und Dürren hier, Anstieg des Meeresspiegels und Überschwemmungen dort, Artensterben, Stürme, Orkane und Tsunamis überall. Wir sind kurz davor, die Lebensgrundlagen für Milliarden Menschen, Tiere und Pflanzen zugrunde zu richten. Die kürzlich beendete Weltklimakonferenz in Ägypten hat erneut gezeigt: wir steuern nicht mal um, wenn wir die Katastrophe am Horizont deutlich erkennen können. De facto ist das 1,5-Grad-Ziel nicht mehr zu erreichen. Unsere Erde erhitzt sich sehr viel stärker und das hat brutale Folgen.
Das Ergebnis des Gipfeltreffens ist enttäuschend, die Europäer stellen China, Russland und Saudi-Arabien an den Pranger: „Frechheit, die fördern und fackeln einfach weiter Öl und Gas ab!“
Zusätzlich sorgen sie dafür, dass die sogenannten „Entwicklungs- und Schwellenländer“ weiter auf fossile Energien setzen müssen, um unseren Bedarf an billigen Importartikeln zu decken.
Die Europäer verschweigen dabei auch, dass Deutschland, Frankreich, Italien und der Rest der scheinheiligen Samariterstaaten wieder auf fossile Energie setzen. Flüssiggasterminals werden neu gebaut, Kohle wieder in Massen gebaggert und verfeuert, vor Afrikas Küsten werden neue Gasfelder erschlossen. Die Europäer stellen sich nicht die Frage welche Annehmlichkeiten, Dienstleistungen und Produkte bei knapper Energie verzichtbar sind. Statt dessen tun sie alles, um ihre die Welt zerstörende Überflussgesellschaft am Leben zu halten. Damit haben sie bei den Schwellenländern ihre Glaubwürdigkeit im Rekordtempo zerstört. Frau Baerbocks Krokodilstränen helfen da auch nicht mehr.
Warum aber bekämpfen Politiker*innen eine Krise (den Energiemangel), indem sie die andere Krise (die Erderhitzung) noch viel schlimmer machen? In Scharm el-Scheich und in den Regierungszentralen in Washington, Berlin, Peking, Delhi, Moskau, Tokio, Paris und so weiter sind die Entscheidungsträger nicht fähig oder willens, die größte Bedrohung der gesamten Zivilisation zu stoppen. Nicht einmal die wichtigsten Schritte, die die Bedrohung weit genug eindämmen könnten, um das Zusammenleben der acht Milliarden Menschen und der Natur für die kommenden 15 bis 50 Jahre zu sichern, wurden unternommen.
Der COP27 Gipfel traf nur kurz- keine langfristigen Entscheidungen. Die Politiker*innen stritten darüber, wer als erstes den Fuß vom Gas nimmt und wer wem wieviel dafür bezahlt statt endlich die Notbremse zu ziehen. Parallel demonstrieren junge Menschen auf den Straßen und Klimaaktivisten starten provokante Aktionen mit Klebstoff, Farbe und Kartoffelbrei. Da ist dann die Empörung groß: „Drehen die jungen Leute jetzt durch?“
Man könnte die Protestaktionen von Klimaaktivist*innen durchaus verurteilen. Wenn man aber für die Aktionen der mehrheitlich älteren Damen und Herren, die auf Gipfeln und in Regierungszentralen hocken, den selben Maßstab anwendet, müsste das Urteil sehr viel härter ausfallen. Deren kollektive Weigerung, die Erderhitzung entschlossen aufzuhalten, ist eine Versündigung am Leben von Milliarden junger Menschen. Die „Alten“ machen das nicht weil sie böse sind. Sie machen es, weil sie an der Macht sind. An dieser Stelle schließt sich der Kreis zum alten Marx und seiner These vom Sein, das das Bewusstsein prägt.
Glaubt ihr nicht? Hier mal nur die wichtigsten Beispiele:
Joe Biden, der nach vorherrschender Meinung mächtigste Mensch der Welt, ist soeben 80 Jahre alt geworden. Auch wenn man ihm ein langes Leben gönnt: mehr als 15 Jahre werden es kaum.
Xi Jinping ist fast 70, er kann sich seine verbleibende Zeit schon ausrechnen.
Frank-Walter Steinmeier, hielt als Bundespräsident kürzlich eine viel beachtete Rede und streifte dabei den Klimaschutz beiläufig, wird im Januar 67.
Indiens Regierungschef Narendra Modi ist 72.
Wladimir Putin 70.
Olaf Scholz wirkt da im Vergleich mit 64 Jahren fast wie ein Jungspund. Die Mitte seines Lebens hat er jedoch bereits deutlich überschritten.
Sie alle und viele weitere ältere Männer beeinflussen als Regierungschefs oder politische Autoritäten maßgeblich die Entscheidung, ob die Menschheit die Klimakrise bewältigt oder es wenigstens ernsthaft versucht. Sie alle scheitern an dieser Aufgabe, denn sie betrachten das Problem nur als eines unter vielen. Andere Dinge oder sich selbst nehmen sie wichtiger. Ihren Landsleuten wollen sie keine großen Entbehrungen zumuten. Im besten Fall haben sie für Verzweiflung und Wut der jungen Menschen einen jovialen Satz übrig. Häufiger reagieren sie mit Präventivhaft (Bayern) oder schlagen mit Knüppeln (China, Russland) zu.
Ich will hier den Demokraten Scholz nicht mit einem Diktator wie Xi Jinping in einen Topf werfen. Bei der Klimakrise ist die Parallele aber leider offensichtlich. Die oben gelisteten Senioren (ja, es sind fast nur Männer) erleben die menschengemachte Klimakrise nicht mehr selbst. Wenn das Leben in weiten Teilen der Erde zu einem täglichen Kampf gegen ständiges Extremwetter, Dürren, Überflutungen, Hungersnöte und Massenmigration wird, haben sie längst das Zeitliche gesegnet. Genau deshalb tun sie zu wenig gegen die Klimakrise. Dieses Problem bedroht nicht mehr ihre Existenz, sie sind davon nicht mehr persönlich berührt.
Für junge Menschen sieht das ganz anders aus und daher appellieren sie immer verzweifelter an die „Alten“. Die Jugend hat längst verstanden, dass sie den Rest ihres Lebens auf dem Misthaufen leben müssen, der mal ein intakter Planet war. Da bleibt aktuell nur die Hoffnung, dass wenigstens sie den ollen Marx widerlegen werden.
Randnotiz zum schlechten Schluss:
Aus ihrer Enttäuschung über die lauen Kompromisse bei der Klimakonferenz in Scharm el-Scheich hat Umweltministerin Steffi Lemke keinen Hehl gemacht: „Das Ergebnis der COP27 insgesamt bleibt hinter dem Notwendigen zurück, das ist extrem bitter“, erklärte die Grünen-Politikerin. Aber: die Ressortchefin stellte zu Beginn der Haushaltswoche ihren Etat für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz im Bundestag zur abschließenden Debatte vor. Dabei kann sie mit einem Plus planen. In ihrem Geschäftsbereich für das kommende Jahr sind Gesamtausgaben von 2,45 Milliarden Euro vorgesehen – 280 Millionen Euro mehr als 2022!
Aber Achtung: fast die Hälfte des Gesamtetats von 1,16 Milliarden Euro sind für die Zwischen- und Endlagerung radioaktiver Abfälle eingeplant.