Antisemitismus geht uns alle an – heute mehr als je zuvor.
Niemand kann mehr ignorieren, dass die Zahl der antisemitischen Vorfälle deutlich zugenommen hat. Im Februar erst wurde ein Mädchen an der Berliner Paul-Simmel-Grundschule von Mitschüler*innen mit dem Tode bedroht, weil sie Jüdin ist.
Das erinnert fatal an ähnliche Vorkommnisse im vergangenen Jahr: In einem Fall im Dezember 2017 wurden in Berlin-Wedding nicht etwa die Täter*innen der Schule verwiesen, sondern dem jüdischen Gymnasiasten wurde aus Sicherheitsgründen einen Raum zur Verfügung gestellt, in dem er die Pausen allein verbringen konnte.
Im Dezember zeigte ein Video die antisemitische Schimpfkanonade eines 60-jährigen Deutschen gegen den Besitzer eines israelischen Restaurants in Berlin. Und das nur wenige Wochen, nachdem auf Demonstrationen in der Hauptstadt jüdische Symbole in Brand gesetzt worden waren und ein Mob in einer U-Bahn-Station „Tod den Juden“ gebrüllt hatte.
Auf deutschen Schulhöfen ist „Jude“ wieder ein Schimpfwort geworden. Eltern raten ihren Kindern, über ihre jüdische Identität zu schweigen, und sie selbst vermeiden es immer häufiger, öffentlich religiöse Symbole zu tragen – nur 73 Jahre nach dem Ende der Shoah.
In der deutschen Rap-Kultur haben antisemitische Klischees längst Einzug gehalten. Und auch in den sozialen Netzwerken gedeihen antisemitische Verschwörungstheorien, Beschimpfungen und Gewaltphantasien. Aber die Bedrohung ist eben nicht virtuell, sondern real – das weiß man spätestens, seit die 85-jährige Holocaust-Überlebende Mireille Knoll im vergangenen März in ihrer Wohnung in Paris brutal ermordet und verbrannt wurde. Einfach nur, weil sie Jüdin war. Und all das sind nur die aktuellsten Fälle einer Serie antisemitischer Verbrechen in den letzten Jahren.
Antisemitismus ist eine reale Bedrohung
Im Gegensatz zu nichtjüdischen Menschen können sich unsere jüdischen Mitbürger*innen den Luxus nicht leisten, den wachsenden Antisemitismus nicht wahrzunehmen, denn sie sind davon täglich unmittelbar betroffen. Und nicht wenige denken laut einem Bericht im Deutschlandfunk darüber nach, auszuwandern. In unserem Nachbarland Frankreich findet diese Auswanderung bereits statt, wie ebenfalls der Deutschlandfunk berichtet.
Leider wird Antisemitismus oft gegen politische Gegner*innen instrumentalisiert. Rechtspopulist*innen haben selbst ein erhebliches Antisemitismusproblem mit Verschwörungstheorien, die schon in der Nazizeit zur Rechtfertigung des Judenhasses gedient haben. Dennoch zeigen sie gerne mit dem Finger auf den „importierten“ Antisemitismus muslimischer Einwanderer*innen. Den gibt es zwar und er muss konsequent bekämpft werden, aber machen wir uns nichts vor: Er fällt in unserer Gesellschaft auf fruchtbaren Boden. Linke wiederum verweisen zwar zu Recht auf völkisch-antisemitische Ausfälle von rechts, verharmlosen aber manchmal die Judenfeindlichkeit unter Migrant*innen oder ignorieren den Antisemitismus in den eigenen Reihen, der sich gerne als „Antizionismus“ oder „Israelkritik“ maskiert. Auch in der politischen Querfront und der Reichsbürger*innen- und Esoterikszene ist antizionistischer Antisemitismus stark verbreitet und vermischt sich dort mit antisemitischen Verschwörungstheorien.
Ob man Entscheidungen der israelischen Regierung begrüßt oder kritisiert, spielt hier übrigens gar keine Rolle, denn der Antisemitismus ist keine Reaktion auf das Verhalten von Jüd*innen. Er ist eine Weltanschauung, die in der Existenz der Jüd*innen die Ursache aller Probleme sieht.
Laut Studien haben etwa 10 Prozent der deutschen Bevölkerung eine klassisch antisemitische Einstellung. Bis zu ein Drittel bejaht antisemitische Aussagen wie „die Juden nutzen die Erinnerung an den Holocaust zu ihrem Vorteil aus“ und bei mehr als einem Fünftel findet sich israelbezogener Antisemitismus. Von einem reinen „importierten Antisemitismus“ kann also nicht die Rede sein – und er lässt sich auch nicht „abschieben“, wie Rechtspopulist*innen gerne fordern. Von 1.453 antisemitischen Straftaten im Jahr 2017 haben 1.377 einen rechts motivierten Hintergrund, wie der Tagesspiegel berichtet. Und auch wenn diese Zahlen ein verzerrtes Bild abgeben, weil ungeklärte antisemitische Straftaten oft unter „rechtsradikal“ verbucht werden, zeigen sie eines deutlich: Judenhass ist ein Problem unserer gesamten Gesellschaft.
Statt sich also gegenseitig die Schuld zuzuweisen oder so zu tun, als gäbe es „harmlosere“ und „verwerflichere“ Spielarten des Antisemitismus, müssen wir begreifen, dass der Judenhass nur gesamtgesellschaftlich angegangen werden kann. Denn der Kampf dagegen ist nicht Job der Jüd*innen. Es ist unser aller Aufgabe, dieser schleichenden Vergiftung unserer Gesellschaft aktiv und konsequent entgegenzutreten.
Was ist zu tun?
Sonntagsreden und Solidaritätsbekundungen gab und gibt es reichlich, doch damit wurde wenig erreicht. Auch eine neue oder verschärfte Gesetzgebung ist keine Lösung und obendrein unnötig, denn mit konsequenter Anwendung bestehender Gesetze ließe sich schon viel erreichen.
Mit der Initiative „Antisemitismus entschlossen bekämpfen“ hat DEMOKRATIE IN BEWEGUNG konkrete Forderungen zum Kampf gegen den Antisemitismus aufgestellt – und eine der Maßnahmen, ein*e Antisemitismusbeauftragte*r der Bundesregierung, wird demnächst in die Tat umgesetzt. Er*sie wird aber auch in der Lage sein müssen, aktiv die Zusammenarbeit von Behörden und Gesellschaft zu koordinieren, denn nach wie vor sind die Zuständigkeiten in Bund und Ländern nicht eindeutig geklärt.
Aber dem Antisemitismus muss nicht nur durch einheitliche Straferfassung und -verfolgung gegengesteuert werden, sondern auch durch Prävention und Bildungsmaßnahmen. Dabei müssen auch versteckte antisemitische Muster aufgezeigt und bekämpft werden. Denn viel zu oft wird Antisemitismus gar nicht erkannt. Ein Beispiel dafür ist der Brandanschlag auf die Wuppertaler Synagoge 2014, bei dem ein Amtsgericht zu dem Schluss kam, es handle sich nicht um eine antisemitisch motivierte Tat, sondern um eine Tat mit politischem Hintergrund. Auch antisemitische Vorfälle an Schulen werden häufig als „Streitigkeit“ oder „religiöses Mobbing“ bagatellisiert. Bei Elternvertretungen, Schulleitungen und der Bildungspolitik fehlt schlicht das Bewusstsein für Antisemitismus.
Mehr als die Hälfte der 14- bis 16-jährigen Schüler*innen in Deutschland weiß laut einer Studie der Körber-Stiftung nicht, was Auschwitz-Birkenau ist. Die Bekämpfung des Antisemitismus muss bei den Kindern anfangen, denn kein Kind wird als Rassist*in oder Antisemit*in geboren. Das Weltbild, das sich in der Schule offenbart, wird oft durch Elternhaus und Satelliten-TV vermittelt; das erklärt Dervis Hizarci, muslimischer Lehrer an einer Kreuzberger Schule und Vorstandsmitglied der „Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus e.V.“ in einem Interview. Er ermuntert Lehrer*innen, umgehend einzuschreiten, wenn es zu antisemitischen Beleidigungen kommt; dazu müsse man weder auf die Polizei noch auf Antisemitismusbeauftragte warten. Aber er weist auch darauf hin, dass man die Eltern erreichen muss.
Antisemitismus geht uns alle an
So wichtig es auch ist, dass die Politik sich dem wachsenden Antisemitismus konsequent stellt: Antisemitismus beginnt im Kleinen und Alltäglichen, und hier ist mehr denn je Zivilcourage gefragt. Antisemitismus ist nicht ein Problem der Jüd*innen. Die Gesamtgesellschaft trägt eine Mitverantwortung und es geht uns alle an – heute mehr als je zuvor.
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